Improvisationstheater über Ländergrenzen hinweg
– die speziellen Techniken der „Neissepiraten“
Die Neissepiraten arbeiten vor allem auf der Ebene von Improvisationen. Das bedeutet zum Einen, dass sich die Stücke aus Improvisationen während der Workshops entwickeln. Die jungen Schauspieler bekommen Aufgaben des Regisseurs und setzen diese in verschiedenen Konstellationen um. So gibt es z.B. genauso „rein polnische“ (bzw. deutsche, tschechische …) Improvisationen, wie auch „gemischt nationale“. Im Laufe eines Workshops arbeitet so jeder Teilnehmer mit jedem anderen aus der Gruppe irgendwann zusammen. Die Improvisationen die entstehen, hängen stark von diesen Gruppen und der ihr eigenen Dynamik ab. Während der Erarbeitung müssen ggf. Sprachprobleme gelöst werden – diese Lösungsansätze spiegeln sich im Ergebnis wieder. Wir werten die so entstehenden neuen Techniken und Ansätze aus und entscheiden, welche wir im Stück verwenden. Die aktuelle Produktion „Einweggeschöpfe“ ist so erstmalig nur aus Improvisationen, d.h. ohne jede Textgrundlage entstanden.
Improvisation bedeutet aber auf der anderen Seite auch, dass es für die Schauspieler keine festen Texte gibt. Jede Aufführung unterscheidet sich damit zumindest im Kleinen von den Vorangegangenen. Wesentlich für die Arbeit mit den Jugendlichen ist daher, dass Sie begreifen und erfahren, worum es im Stück geht. Was ist die Motivation eines bestimmten Charakters? Wie bewegt sich die Figur? Wie drücken sich Gefühle und innerer Antrieb in Sprache und Bewegung aus? So improvisiert sich das Ensemble auf der Grundlage fester Charaktere erfolgreich an dem roten Faden der Geschichte entlang.
Um die schauspielerische Arbeit möglich zu machen, muss das Ensemble natürlich auch über entsprechende Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen: Körper und Stimmübungen sowie Auseinandersetzung mit Dramaturgie und Theater in Praxis und Theorie sind fester Bestandteil jedes Treffens.
Die Arbeitsweise der Neissepiraten lässt sich an drei Grundideen festmachen: Der Tumult, die Akzeptanz und die Grenzerfahrung.
Der Tumult
Um mit Schülern mit so stark von Improvisation geprägten Methoden arbeiten zu können, muss die Atmosphäre und der Umgang mit den Schauspielern sehr frei sein. Jeder muss Raum haben, sich zu entfalten, angstfrei darzustellen und Experimente zu wagen. Betrachtet man, z.B. als Zaungast, einen der Workshops von außen, so gibt es immer wieder scheinbar „tumultartige“ oder „chaotische“ Szenen. Tatsächlich geht es aber darum, den Dingen (und damit den Schülern) immer wieder Freilauf zu lassen, um die Ergebnisse dann wieder zu kanalisieren. Improvisation funktioniert ausschließlich auf der Basis von Freiheit und Freiwilligkeit. Improvisation – auch wenn es manchmal so aussieht – ist etwas vollkommen anderes als „albernes Herumgekasper“ oder „Herumblödeln“. Improvisation vollzieht sich aufgrund vorhandener Kenntnisse und Fähigkeiten, d.h. von Techniken, die die Schauspieler im Laufe der Arbeit vermittelt bekommen haben.
Die Akzeptanz
Jeder Teilnehmer hat die Möglichkeit sich einzubringen, wird angehört und ernst genommen. Nur so können die Schauspieler ermutigt werden, Experimente zu wagen und aus sich heraus zu gehen. Es gibt in der Improvisation zunächst nichts Richtiges oder Falsches. Entscheidungen darüber, wer und was auf die Bühne kommt, sind für alle transparent. Die Aufgabe des Regisseurs ist es vor allem, den Schülern zu zeigen wie man die Ideen im Theater umsetzen kann. Wir versuchen, das Anderssein unserer Kollegen im Ensemble zu akzeptieren und wir können unsere Eigenheiten zeigen. Aber wir alle machen auch deutlich die Erfahrung, wo die Freiheit des Einzelnen im Rahmen der gemeinsamen Arbeit enden muss. Natürlich finden auch persönliche Vorlieben und Abneigungen, Freundschaften, Ablehnung und Berührungsängste ihren Niederschlag in unseren Prozessen.
Die Grenzerfahrung
Die Arbeit der Neissepiraten lebt von den Grenzerfahrungen. In den Übungen und Improvisationen geht es immer wieder darum, eigene Grenzen zu überwinden, sich etwas Neues zu trauen. Wir wagen Experimente im Tanz und in der Bewegung. Wir treffen immer wieder auf andere Ensemblemitglieder, müssen gemeinsam improvisieren, uns über die Sprachbarrieren hinweg austauschen. Wir fassen uns auf der Bühne an, wir machen alberne Gesten, schneiden Grimassen und wer Pech hat, muss im Rampenlicht auf einmal Küssen.
Die Teilnehmer, die Spielleiter und selbst der Regisseur machen Grenzerfahrung im Bezug auf den eigenen Körper, im Umgang mit anderen Ensemble mitgliedern, in der Auseinandersetzung mit den anderen Ländern und Kulturen. Wir haben über die Jahre viel voneinander gelernt – nicht immer ohne Konflikte und ohne Verletzungen.
Grenzerfahrungen brauchen einen sicheren Rahmen, d.h. ein Team, dass den Teilnehmern Sicherheit vermittelt, das Akzeptanz fordert und fördert und im „Tumult“ den Überblick behält. Wesentlich für unsere Arbeit ist daher auch die Zusammenarbeit der Spielleiter und des Regisseurs. Und Grenzerfahrungen brauchen das Vertrauen, dass am Ende alles den richtigen Weg geht, dass sich die Prozessorientierung in der Improvisation rechtzeitig zur Produktorientierung für die Aufführung wandeln lässt. Dafür ist ein umfassendes Wissen und langjährige Erfahrung in der Drama und Theaterpädagogik notwendig. Unsere Schüler reifen in diesem Prozess als Menschen, als Schauspieler und als junge Europäer.